Walter Hahn alias Gunther im Clinch mit einem Widersacher: Wahr wird, was man glauben will.
Walter Hahn alias Gunther im Clinch mit einem Widersacher: Wahr wird, was man glauben will.

Bevor wir zur Sache kommen, ein kleiner Exkurs darüber, was wahr ist und was nicht: Der große Filmemacher Werner Herzog sieht in der Kultur des Show-Wrestlings sein theoretisches Konzept der "ekstatischen Wahrheit" erfüllt. Was meint er damit? Dass Wahrheit sich nicht unbedingt immer daraus erschließt, was Menschen wissen, sondern daraus, worauf sie sich einigen können.

Beim körperlichen Hochleistungstheater Wrestling, meint Herzog, kommt es, anders als im Sport oder bei sonstigen Kulturevents, zu dem einmaligen Ereignis, dass zwar alle (okay, fast alle) um den und im Ring Versammelten wissen, dass hier gerade nur so getan wird, als ob. Und doch spielen alle (wirklich alle) ihre Rolle mit einer Hingabe, die für jene knapp zwei Stunden einer Live-Show eine Wahrheit erschafft, die für Herzog tiefer reicht als die wirkliche Wahrheit. Ekstatische Wahrheit eben. Oder anders gesagt: Wenn alle nur ganz fest daran glauben wollen, dass es wahr ist, dass hier gerade knochenbrecherische G'nackwatschn und G'streckte mit Anlauf ausgeteilt werden, dann tut es irgendwann wirklich weh.

Vom Hinterhofring bis in die WWE: Wrestling wird immer öfter auch als Empowerment für Frauen verstanden.
Vom Hinterhofring bis in die WWE: Wrestling wird immer öfter auch als Empowerment für Frauen verstanden.
WWE

Wir sehen schon: Für allzu nüchterne Geister ist diese Form der Massenunterhaltung nichts. Und im Zeitalter alternativer Fakten (wir erinnern uns mit Schaudern an Donald Trump) hat das Metier sowieso einen schweren Stand. Trotzdem muss Wrestling als einer der wenigen geschützten Räume, in dem Helden und Heldinnen noch über sich hinauswachsen können, wo die Komplexität der Welt auf Gut gegen Böse, Schiach gegen Schön oder Klein gegen Groß heruntergebrochen wird, erhalten bleiben. Als spielerischer Umgang mit Machtverhältnissen ist Wrestling aus gutem Grund seit einiger Zeit in feministischen Kreisen beliebt. Es zieht seine Blutspur von den Kellerlöchern des Wiener Gürtels bis zu den Festivals der Hochkultur.

Gürtel für alle

Apropos Gürtel. Einen solchen trägt im Show-Wrestling gefühlt jeder mit sich herum. Und jene tausenden Fans, die sich diesen Donnerstagabend ausnahmsweise von der Couch aufgerappelt haben, um in der Wiener Stadthalle der "Supershow" des US-Profiwrestling-Multis WWE (World Wrestling Entertainment) beizuwohnen, deckten sich kurzerhand für gutes Geld mit Plastikexemplaren der Titeltrophäen ein. Gürtel für alle, jeder darf heute Weltmeister sein.

Gunther versprach Wien, schon bald mit einem neuen Gürtel zurückzukehren.
Gunther versprach Wien, schon bald mit einem neuen Gürtel zurückzukehren.
WWE

Einen Gürtel, den der "WWE Intercontinental Championship" nämlich, durfte für genau 666 Tage zuletzt der Wiener Wrestler Walter Hahn, Ringname Gunther, sein Eigen nennen, ehe er ihn an den Holzfäller-Wurzelsepp Sami Zayn aus der kanadischen Wrestlingmetropole Montréal verlor. Beide gastierten nun in Wien, beide wurden vom Publikum bejubelt, beide durften siegen, nur nicht gegeneinander. Dass mit Gunter seit 2020 ein Österreicher im Wrestling-Olymp mitmischt, gilt als Sensation und Wundervermehrung in dessen Geldbörse. Er tut dort das, wozu deutschsprachige Männer mit holzgeschnitzten Gesichtern im US-Entertainmentbusiness seit jeher Verwendung finden: den Faschisten spielen. Und im Gegensatz zu seinem deutschen Kollegen Ludwig Kaiser, gemeinsam bildet man die Gruppe Imperium, ist der solo als "Ring General" profilierte Gunther richtig beliebt – was nur außerhalb der Wrestlingwelt ein Problem wäre. Denn wenn die Bösen gut werden oder Gute böse, finden die Storylineschreiber der WWE immer einen Weg. Läuterung zum Beispiel.

Das Trio Naomi, Jade und Bianca stahl den Herren des Abends die Show.
Das Trio Bianca Belair, Jade Cargill und Naomi stahl den Herren des Abends die Show.
WWE

Die Wienerinnen und Wiener warfen Gunther bei dessen glanzlosem Sieg einen Rapidschal zu, er selbst versprach, schon bald wieder mit einem Titel heimzukehren. Den mehr auf hüpfende Brustmuskeln und Rumgepose denn auf Athletik und Technik setzenden Herren des Abends stahlen dann aber ohnehin die Frauen die Show: Das Trio Naomi, Jade Cargill und Bianca Belair drehte seine Gegnerinnen mit krachender Akrobatik durch den Fleischwolf. Und wenn die ebenso handfeste Ringrichterin von einem Ungustl blöd angegangen wird, dann geigt sie ihm ebenfalls die Meinung. Ekstatische Wahrheit – hier darf sie dann auch Wirklichkeit werden. (Stefan Weiss, 3.5.2024)