Ich sitze plötzlich wieder im Gymnasium, mit über 40. Habe ich die Matura am Ende doch nicht gemacht? Zu Hilfe! Erleichtert wache ich auf. Hört das jemals auf mit den Angstträumen von der Matura? Einer nicht repräsentativen Umfrage im Kreis von Freundinnen und Freunden zufolge: Nein. Ich rufe eine Freundin aus Schweden an: Angst vor der Matura? Kennt man das bei euch? "Bitte wie?", fragt sie.

Schlechte Träume auch Jahre nach der Matura? Das geht einigen so.
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Sie lässt sich von mir das System Matura schildern. "Das klingt ja schrecklich!", meint sie. Das Gymnasium in Schweden dauert drei Jahre, man erwirbt währenddessen Punkte. Keine Matura. Eine Prüfung kann man machen, aber nur, wenn man sich verbessern will – eine zweite Chance sozusagen. Ich bin verstört. Das muss also alles gar nicht so sein?

Traum und Trauma

Auch Sigmund Freud hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, seiner Traumdeutung, den Albtraum von der Prüfung bereits ausführlich beschrieben. Woher kommt er denn, der Prüfungsstress im Schlaf? Privatdozentin Brigitte Holzinger, Leiterin des Instituts für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien, aktuell wissenschaftliche Leiterin des Masteruniversitätslehrgangs Schlafcoaching an der Med-Uni Wien, erklärt: "Gründe für Albträume gibt es hunderte." Holzinger bietet auch eine positive Interpretation an: Ein Albtraum ist nicht zu Ende geträumt, hat vielleicht die Aufgabe, in der träumenden Person ein Thema aufzugreifen, das nicht ganz fertig ist, nicht ganz gelingt. "Das kann etwas Banales sein, aber auch eine Traumatisierung. Ich weiß nicht, ob alle von der Matura traumatisiert worden sind, man könnte das natürlich polemisch in den Raum stellen."

Noch eine These aus der Traumforschung: "Jeder Traum ist angstgespeist, weil die Amygdala, grob gesagt ein Hirnzentrum, das im REM-Schlaf doppelt so aktiv ist wie im Wachzustand, zuständig ist für Traumatisierungen, für starke Gefühle, vor allem Angst." Danke für nix, Hirn!

Wo der Stress entsteht

Ist es auch die Form der Prüfung, die so stresst? Eine Momentaufnahme, die über weiteres Wohl und Wehe entscheidet? "Mit der Angst hat es auf jeden Fall zu tun und der Frage, wie man mit Angst fertig wird", sagt Holzinger. Auch ihre These war lange, dass der Maturatraum vor einer weiteren Prüfungssituation wiederkehrt, vor einem schwierigen Gespräch mit Vorgesetzten beispielsweise.

"Mit der Angst hat es auf jeden Fall zu tun und der Frage, wie man mit Angst fertig wird."
Brigitte Holzinger, Leiterin des Instituts für Bewusstseins- und Traumforschung 

"Möglicherweise träumt man das dann, um sich selbst zu bestärken: Das habe ich damals auch geschafft." Der Albtraum will uns am Ende also sogar helfen? Holzinger sieht Träume als eine Art "kleine Psychotherapie", als "Bedrohungssimulation", insofern kann er uns auch auf etwas vorbereiten, der Matura-Albtraum als Flugsimulator, sozusagen. Was hilft: Sich mit den damit verbundenen Gefühlen auch bei Tag zu konfrontieren, und sei es nur, darüber zu reden, wie es einem damals gegangen ist.

Eine lange Geschichte

Eingeführt wurde die Matura 1849, also vor 175 Jahren. Die Matura berechtigt laut Definition zum Studium, die "Reife" ist eingebaut in der Terminologie. Damals gab es sie nur für Buben – das erste Mädchengymnasium wurde 1892 vom "Verein für erweiterte Frauenbildung", einer Gruppierung einflussreicher Frauen, gegründet, die ersten Mädchen treten 1898 als Externistinnen bei der Matura an.

Fast so alt wie die Matura sind die Diskussionen, sobald sie verändert wird. 1908 durften von der Prüfungskommission erstmals Zwischenfragen gestellt werden, nicht nur vorformulierte Fragen, um Prüflinge auf den richtigen Weg zu führen. Und es entschieden ab sofort sieben Prüfer nach Majorität darüber, ob die Matura bestanden war. "Die neuen Prüfungsvorschriften haben die Matura zu einer reinen Formalität herabgedrückt, und man könnte, da man schon so weit gegangen ist, noch weiter gehen und die völlige Abschaffung der Matura verfügen", echauffierte sich ein gewisser Hofrat Prof. Dr. Josef Hirn damals in der österreichischen Tageszeitung Die Zeit. "Es wird auch völlig Unfähigen Tür und Tor zum Eintritt in das Hochschulstudium geöffnet!" Aber das war damals.

Stress vorm Tribunal

Die sozusagen neue "Neue Matura" ist seit 2014/2015 "teilzentral", sie besteht aus der Vorwissenschaftlichen Arbeit, der schriftlichen Matura, bei der die Aufgaben zentral vorgegeben sind, und der mündlichen Matura. Weg ist er aber damit natürlich nicht, der Stress.

Heidi Schrodt war langjährige Direktorin des Gymnasiums Rahlgasse Wien (übrigens seinerzeit jenes oben erwähnte erste Mädchengymnasium) und ist Vorsitzende der Initiative "Bildung grenzenlos". Sie kennt die Matura beruflich aus allen Perspektiven, war 17 Jahre Lehrerin, dann Direktorin, hatte auch Maturavorsitz. "Man erlebt hautnah, wie stressbeladen das für viele ist."

Für viele Teenager ist die Matura stressbeladen.
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Sie selbst war auch als Schuldirektorin noch immer nicht vor Matura-Albträumen gefeit, aus denen sie schweißgebadet aufgewacht ist: "Wissen Sie, was mir manchmal geträumt hat? Dass ich als Schuldirektorin die Mathematik-Matura machen musste und es nicht zusammengebracht habe – und mir dachte, jetzt wissen alle, dass ich Mathematik nicht kann", erzählt Schrodt. Wenn Schuldirektorinnen von der eigenen Matura albträumen, wie sollen es dann erst anderen gehen?

Oder soll man es lassen?

Weglassen will auch sie die Matura nicht: "Qualität ist wichtig. Es braucht eine Berechtigung für tertiäre Einrichtungen, also für Hochschulen und Universitäten, Fachhochschulen". Und doch: "Was veraltet ist, ist dieses Ritual. Man geht dahin wie eine Angeklagte. Es ist wie ein Tribunal. Das entscheidet so vieles, diese punktuelle Prüfung, eine Viertelstunde." Sie hat Prüfungen erlebt, wo die Prüflinge kein Wort herausgebracht haben. Oder einfach nichts gewusst haben. Abbrechen durfte man die Prüfung nicht: Alle saßen da und haben geschwiegen vor dem befreienden "Danke!". "Nachdem ich fast 40 Jahre Jahr für Jahr mit wenigen Ausnahmen bei diesem Ritual dabei war, bin ich für die Abschaffung der mündlichen Prüfung in dieser Form", sagt Schrodt.

"Was veraltet ist, ist dieses Ritual. Man geht dahin wie eine Angeklagte. Es ist wie ein Tribunal."
Heidi Schrodt, Vorsitzende der Initiative Bildung grenzenlos

Diskussionen über die Abschaffung der Matura wurden über die Jahre immer wieder geführt, mit unterschiedlicher Heftigkeit – das Grundthema dabei ist und bleibt die Frage nach Autoritäten, nach Unterrichtsmethoden und nach den gesellschaftlichen Wirklichkeiten hinter dem Bildungssystem. Braucht es das überhaupt, eine finale Prüfung, nach acht Jahren Besuch einer allgemeinbildenden höheren Schule, Tests, Schularbeiten, Benotung inklusive? Diverse Reformen später stellt sich die Frage noch immer. Auch Lehrerinnen und Lehrer stöhnen unter dem zusätzlichen Aufwand, den die Matura darstellt – auch emotional für die jungen Menschen in der Schule.

Was gegen die Angst hilft

Christa Koenne ist Didaktikerin der Universität Wien und hat sich als Expertin viel mit dem Thema Prüfungskultur, pädagogische Bildung und Schulentwicklung auseinandergesetzt. Für die Beibehaltung der Matura sieht sie inzwischen ein anderes Argument: "Ich war lange der Meinung: Diese letzte Überprüfung ist unnötig und eigentlich nur eine Tortur. Seit der schriftlichen Zentralmatura, bei der zentral die Themen vorgegeben werden, bin ich dafür, weil es die Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet, sich in ihren Fächern den Bildungszielen der Zentralmatura zu stellen".

Auch sie sieht die Matura als Initiationsritual. Dabei ist es letztlich nicht die Prüfung, die uns Angst macht, sondern "die Konsequenz der Prüfung, die schlechte Note". Koenne hat die Lehramtsfächer Chemie, Physik und vor allem Mathematik – Angstgegner vieler Schülerinnen und Schüler. Sie weiß: "Angst ist nicht gut fürs Lernen. Man speichert dann das Wissen dort ab, wo die Angst ist. Dann ist man etwa ein Leben lang blockiert bei Mathematik, weil die Wissensinhalte dort gespeichert sind, wo die Psyche die Angst speichert."

"Angst ist nicht gut fürs Lernen."
Christa Koenne, Didaktikerin der Uni Wien

So weit die Theorie. Wie wappnet man sich nun in der Praxis vor der Angst? Heidi Schrodt rät: Nicht am letzten Tag lernen. Wer in der Nacht vor der Matura durchmacht, blockiert am Ende nur das vorher Gelernte und hat ein Blackout. Sie hat als Lehrerin ihren Schülerinnen und Schüler als Aufgabe gegeben, Prüfungssituationen durchzuspielen, auch mit Freundinnen und Freunden: Wie reagiere ich, wenn mir nichts einfällt? Es hilft, wenn man mit Gefühlen vertraut ist, weil man sie im Rollenspiel bereits erlebt hat.

Gemeinsames Lernen

Brigitte Buchberger unterrichtet Mathematik am Lise-Meitner-Realgymnasium, der "Schottenbastei". Sie weiß um die Fallstricke der Mathe-Zentralmatura. Wichtig sei, bei der Prüfung durchzudenken, ob alles so stimmen kann. Also noch einmal entspannt von allen Seiten auf eine Aufgabe zu schauen, um auch auf mögliche Fehler draufkommen zu können. Frei nach dem Motto "Zuerst denken, dann schreiben und gut durchlesen".

Christa Koenne mahnt, die Fächer nicht auszublenden, in denen man "eh gut" ist. Eine zu hohe Konzentration auf Problemfelder sorgt für Defizite in anderen Fächern. Erfolg verspricht gemeinsames Lernen in selbstorganisierten Gruppen von Schülerinnen und Schülern, die auch nicht alle gleich gut sein müssen. Und, das ist das Wesentliche, was Koenne zur Vorbereitung sowohl den jungen Menschen, die demnächst die Matura ablegen, als auch deren Eltern mitgeben will: "Es ist nicht lebensgefährlich, was hier passiert. Wenn man die Sorgen zu sehr hochspielt, bringt das gar nichts." Denn dann entstünden erst recht Albträume vor der Matura – und die will man weder dann noch in den Jahren darauf. (Julia Pühringer, 29.4.2024)